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Mittwoch, 19. Mai 2010
Mein Leben mit der Anwesenheitsliste
Da kommt man entspannt vom Laufen, freut sich, die Berge unerledigter Hausaufgaben (ja!) für die Uni mal erfolgreich verdrängt zu haben und muss sich schon wieder aufregen: in der heutigen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung las ich einen Artikel über die Bologna-Konferenz in Berlin, auf der über die Qualität der Lehre und andere Problemzonen unserer dicken Tante Bologna gesprochen wurde. Dort kam es zum Eklat, als Studierendenvertreter den Saal verließen und nicht mehr an der Diskussion teilnahmen, weil Bundesbildungsministerin Schavan nicht auf Augenhöhe diskutiere.

Mein persönlicher Aufreger war allerdings ein davon unabhängiger Abschnitt, in dem die Autorin Heike Schmoll zuerst den scheidenden Kultusminister Sachsen-Anhalts, Jan-Hendrik Olbertz, zitierte, um dann eine vielleicht provokante, vielleicht auch einfach aggressiv-dumme, aber auf jeden Fall rhetorische Frage zu stellen:

’Es stimmt nicht, dass die Forschung intakt ist und die Lehre falsch’, sagte der Kultusminister. Anwesenheitslisten hielt Olbertz für kindisch, sprach sich aber umso entschiedener für Anwesenheitspflichten aus. Provoziert hatten diese Erörterungen die Studentenvertreter selbst, die noch einmal für eine Abschaffung der Anwesenheitspflicht plädierten. Wer hat sie eigentlich gezwungen, ein Studium aufzunehmen?

Nein, Frau Schmoll, niemand hat uns gezwungen, wir gehen tatsächlich freiwillig in die Uni, obwohl unsere Wahlfreiheit in den Kursen oft kaum mehr eine ist. Dass mein Stundenplan nie so „schön“ wie der eines Magisterstudenten aussehen wird, dass ich einen Arbeitgeber brauche, der sich in meinen Stundenplan irgendwie einfügen muss, dass jede popelige Veranstaltung am Ende mit einer Klausur abgeprüft wird – daran habe ich mich schon fast gewöhnt. Dass man aber einem Studenten, der eben freiwillig zur Universität geht, weil er lernen will und sich in seiner Eigenständigkeit und seinem Denken emanzipieren, überall, und sei es in Übersichtsringvorlesungen mit 150 Teilnehmern, Anwesenheitslisten vorsetzt, das finde ich traurig. Traurig, weil man mir offensichtlich nicht vertraut, dass ich mein Studium organisiere und für mich relevantes Wissen ohne Druck von Außen mitnehme. Und weil man mich, zusätzlich zur Einschränkung durch zweifelhafte breite Nebenfächer, auch noch darin entmachtet, zu wissen, was für mich relevant ist.

An der Uni scheint es nämlich jetzt nicht nur im Stundenplan und bei den Hausaufgaben so zu laufen, wie damals in der Schule: die Dozenten unterstellen den Studenten – wie früher die Lehrer den Schülern – dass sie nur das Schlechteste wollen, also: Veranstaltungen schwänzen wo es geht und möglichst wenig lernen.
Aber: wieso sollte ich dann 500€ Studiengebühren pro Semester zahlen? Wieso mich überhaupt einschreiben? Und was ändert es an der Studienabbrecherquote, wenn äußerst undisziplinierte Studenten schon nach dem ersten Semester gehen, weil sie zu oft gefehlt haben, oder erst später, wie bisher?

Noch dazu wären wir in den meisten Fällen wirklich dumm, würden wir die Veranstaltungen nicht besuchen, kann doch jederzeit eines der klausurrelevanten Wörter fallen, nach denen wir irrsinnigerweise spechten. Auch führt die Anwesenheitspflicht nicht zu besseren Lernerfolgen, ganz im Gegenteil: diejenigen, die tatsächlich wenig Lust haben, laufen in Gruppenstärke zu den großen Veranstaltungen auf, um sich dort in normaler Lautstärke zu unterhalten. Wären sie zum Besprechen ihrer Problemchen ins Café gegangen, hätten alle Umsitzenden auch mehr von der Vorlesung gehabt.

Bevor also die angekündigten zwei Milliarden Euro für die Lehre ausgegeben werden, wäre es meiner Meinung nach angebracht, das Bild zu überdenken, das Politiker und Dozenten von uns Studenten haben. Denn ein paar mehr Dozenten pro Uni können nicht das Gefühl wettmachen, dass diejenigen, die einem einerseits gute Bildung ermöglichen, einem andererseits offensichtlich keinerlei Verantwortungsgefühl zutrauen.

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